© HTV, Andreas Lehmberg

Drahtseilakt im Harz

von Anna Schütz

Familienausflug zur TITAN RT

Bis zum letzten Tag hatten die Bauherren es nicht verraten. Keiner wusste, wie lang genau die Hängebrücke über das Rappbodetal wirklich sein würde. Am 7. Mai 2017 wurde die Titan RT, wie sie genannt wird, feierlich eröffnet, und zu diesem Zeitpunkt wusste man: Die längste Hängebrücke der Welt hängt im Harz! Dies galt allerdings nur für zwei Monate, denn im Juli übernahm eine Brücke bei Zermatt den Titel. Diese gilt nun mit ihren 494 Metern offiziell als die längste Hängebrücke der Welt. Und die Länge ist ein massives Kapital, wo Konkurrenz und Rekordhunger einfach riesengroß sind. Unsere Harzer Brücke schwebt nun als Zweitplatzierte mit 458,5 Metern 100 Meter über der Talsohle und ist damit knapp 20 Meter länger als die Dritte im Bunde im russischen Sotschi, die 439 Meter misst.


Wir machen uns frühmorgens auf den Weg und nähern uns dem Bauwerk über Wendefurth. Bald biegen wir von der B81 rechts ab auf die L96 - und da taucht sie zwischen den Bäumen plötzlich auf: Das gewaltige 120-Tonnen-Stahlkonstrukt verläuft parallel zur trutzigen Staumauer der Rappbodetalsperre (die übrigens die höchste in Deutschland ist) und sieht neben dieser trotz der armdicken Stahlseile fast filigran aus. „Da!“, ruft mein Sohn, schweigt aber ansonsten voller Ehrfurcht. Sachte schwingt die Brücke über der Bode in der Morgensonne – noch deutet nichts darauf hin, dass bald viele, viele große und kleine Füße über sie laufen werden. Denn jeder kann die Brücke ohne Sicherheitsausrüstung betreten. Festes Schuhwerk und ein bisschen Mut reichen aus. Kinder bis 14 Jahre müssen allerdings von einem Erwachsenen begleitet werden.
Aber noch ist alles ruhig. Als erste passieren wir das Drehkreuz, das sicherstellt, dass sich nie mehr als 210 Personen auf der Brücke befinden. Das dient der Sicherheit, soll aber auch verhindern, dass Gedränge das Erlebnis beeinträchtigen. Vorsichtig machen wir die ersten Schritte. Schon bald haben wir keinen festen Boden mehr unter den Füßen; nur ein Gitterrost zwischen uns und dem Abgrund, der uns den Blick in die Tiefe erlaubt. Wer nicht schwindelfrei ist, dem stockt spätestens jetzt der Atem. „Ganz schön tief“, bestätigt auch meine Tochter. „376, 377, 378 ...“, zählt ihr Zwillingsbruder leise weiter – vielleicht, um nicht aus dem Takt gebracht zu werden, vielleicht aber auch, um sich durch das monotone Zählen zu beruhigen. Ich nehme ihn jedenfalls an die Hand und gehe weiter. Links und rechts sichert uns ein 130 cm hohes Geländer mit Handlauf und Edelstahlnetz bei unserem Gang in luftiger Höhe. Mit der Talsperre im Rücken bietet sich uns ein phantastisches Panorama: Unter uns liegt friedlich und dunkelgrün der Fluss, wir blicken über Tal und Wälder, die Morgenluft ist frisch und klar, die Stimmung fast ein bisschen erhaben. Es ist nahezu windstill, und die Brücke vibriert bei jedem unserer Schritte nur ganz leicht. Weht es allerdings mit mehr als 55 Stundenkilometern, sprich mit Windstärke 6, wird der Betrieb aus Sicherheitsgründen eingestellt. „Auch zum Sonnenuntergang muss es hier herrlich sein“, denke ich beim Weitergehen und verspreche wiederzukommen. Schließlich erwähnt der Flyer eine dezente Brückenbeleuchtung, die eine sichere Überquerung bis 22 Uhr gewährleistet.


„748!“, sagt da mein Sohn. Wir sind auf der anderen Seite angekommen und blicken zurück. Langsam wird es voller. Immer mehr Menschen betreten den 120 cm breiten Gitter-Laufsteg. Die Brücke schwingt jetzt schon ein bisschen mehr. Aber immer noch dezent, gerade recht für ein bisschen Kitzel und nicht so, wie die Millenium Bridge in London während ihres Wackel-Debakels im Jahr 2000. Mathematische Fehlberechnungen hatten dazu geführt, dass sie heftig ins Schlingern geriet und bereits zwei Tage nach ihrer Eröffnung wieder für zwei Jahre geschlossen wurde. Im Harz sollte das nicht passieren. Zum einen verhindern dies Abspannseile mit mächtiger Vorzugsspannung, zum anderen entwarfen Experten der Leibniz-Uni Hannover ein 3-D-Modell, das Wind- und Schwingungsverhältnisse an der Talsperre genauestens berechnet und berücksichtigt. Aber auch an der Rappbodetalsperre musste man wegen der aufwändigen Statik-Berechnungen und Genehmigungsverfahren den Eröffnungstermin um ein paar Monate verschieben.
Nach dreieinhalb Jahren Planung und zehn Monaten Bauzeit krallt sich nun aber das etwa drei Millionen teure Original mit der gewaltigen Zugkraft von 947 Tonnen in die Schieferfelsen beider Talseiten. Vier Haupttragseile mit einem Durchmesser von 65 mm bilden das Rückgrat der Konstruktion, die zusätzlich von zwei Stabilisierungsseilen in Form - und bei höheren Windgeschwindigkeiten in Position – gehalten wird. 48 Zug- und Druckanker sind bis zu 27 Meter lang und stecken in fast 400 Tonnen Beton und Stahl.


Ausgeführt hat das Ganze ein auf Hochgebirgsbau spezialisiertes Unternehmen aus Österreich. Betreiber aber sind zwei Brüder aus dem Harz: Stefan und Maik Berke haben 2011 die Firma Harzdrenalin gegründet und sich damit dem Erlebnis-Tourismus im Harz verschrieben. Um die Rappbodetalsperre herum, die rund 20 km östlich von Braunlage liegt, haben die beiden schon mehrere Angebote geschaffen, die den Adrenalinpegel der Besucher in die Höhe treiben. Beim „Wallrunning“ können sie angeseilt 43 m an einer Staumauer senkrecht herunterlaufen. Mit der „Megazipline“ der nach eigenen Angaben „längsten Doppelseilrutsche Europas“, fliegt man in 120 m Höhe fest angeschnallt einen Kilometer über die Bode. Und wer noch mehr Abenteuer will, läuft nicht nur wie wir über die Brücke, sondern springt mit „Gigaswing“ allein oder im Tandem von ihr runter. Direkt unterhalb der Titan RT nämlich können Nervenstarke, die mehr als 35 kg und weniger als 135 kg wiegen, wie im freien Fall dem Erdboden oder vielmehr der Bode entgegen rasen, bis eine Pendelbewegung sie auffängt und ausschwingen lässt. Meinem Adrenalinspiegel reicht es vollkommen, den Springern zuzuschauen. Aber mein Siebenjähriger hat seitdem nur noch das Ziel vor Augen, endlich zehn Jahre alt zu werden und 35 kg zu wiegen...

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